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BeitragVerfasst: Sa 13. Apr 2013, 18:11 
Administrator

Registriert: Mi 21. Nov 2012, 02:44
Beiträge: 96
Jeder möge daraus seine eigenen Schlüsse ziehen.
Zitat:
Als ich das letzte Mal starb, war das so: Gegen Ende des 20. Jahrhunderts, viele Leben nach dem, das ich einst in Stockholm begonnen und als Wissenschafter in England beendet hatte, lebte ich in der Schweiz. Eines Abends hatte ich nicht nur Kokain im WC der Allegro-Bar in St. Moritz geschnupft, sondern später in meinem Apartment in der Via Maistra auch noch mehrere irische Whiskeys hinuntergestürzt und mir danach eine Havanna angesteckt. Es war zwei Uhr nachts, ich todmüde, doch ich wollte – seit Monaten schon willentlich schlaflos – das nächste Werk abschliessen. Denn je weniger sich die Öffentlichkeit für meine Werke interessierte, desto frenetischer arbeitete ich Tag und Nacht. Dann plötzlich ein schrecklicher Schmerz in der Brust, ein Stechen im linken Arm, ein Sturz und Dunkelheit.

Kurz danach sah ich meinen regungslosen Körper am Boden liegen, schwebte durch die Decke und einem freundlichen Licht entgegen. In ihm löste ich mich jedoch nicht in warmer Liebe auf, wie Ihr vielleicht meint. Nein, ein schimpfender Zwerg stürzte aus ihm hervor und warf mich hinab in einen Keller, der mit einer riesigen, sich langsam lüstern windenden Messingtrommel fast ganz ausgefüllt war, um die bleiche Gestalten standen. Die steckten ihre von Ärmeln entblössten rötlichen Arme durch schmale ovale Öffnungen in die Trommel und zogen in der Mitte geteilte Bälle aus ihr heraus, die sie mit einer Drehung der Hälften gegeneinander öffneten, um ihnen ein Blättchen zu entnehmen. Ich tat wie sie, nachdem ich eine Weile zugeschaut hatte.

Kaum hatten sie auf den Zettel geblickt, verschwanden sie und wurden durch neue Personen ersetzt. Auch ich verschwand aus dem Keller mit der Trommel, sobald ich das flauschige Deckbett auf meinem Blatt erkannt hatte, und fand mich an diesem Schreibtisch – unendlich müde – wieder. Was war geschehen?

Wer das Bild auf dem Zettel erkennt, entsteht offenbar sofort in einem neuen Leben wieder, das durch etwas gekennzeichnet ist, was der Wiedergeborene im letzten Dasein vermied oder ihm fehlte und ihn zu Tode gebracht hatte. Ich bin zuversichtlich, dass dies mein letztes Purgatorium sein muss und danach wirklich Schluss ist. Ich kann einfach nicht mehr. Ich will endlich ewig schlafen. Doch ich, der ich den Schlaf wegen meiner Ruhm- und Genusssucht gemieden hatte, musste das Schlaflos ziehen und fand mich im Dasein eines ewig Schläfrigen wieder. Personen, die umkommen, weil Mächtige sie vergiften lassen, die sie selbst erst umschmeichelt, dann belogen und schliesslich bei anderen Mächtigen angeschwärzt haben, müssen sich als Erzieher und Prediger durchschlagen: Sie ziehen das Charakterlos. Jungfern, denen vor Schreck das Herz stehenbleibt, als ein Verehrer, der ihnen seit Jahren den Hof gemacht hat, sie zärtlich zu küssen versucht, finden sich als Prostituierte auf der Zürcher Langstrasse wieder, wo sie sich gierig mit den hässlichsten Freiern zu geringsten Preisen einlassen: Ihnen ist das Geschlechtslos zugeteilt.

Die Trommel ist angefüllt mit Schlaflosen für solche wie mich, Geschmacklosen für an Askese Eingegangene, Schmerzlosen für Weichlinge, die sich mit Aspirin zu Tode bringen, Wolkenlosen für an Höhenangst Gestorbenen . . . Also hütet Euch vor dem, was Ihr meidet und was Euch fehlt, denn irgendwann werdet ihr ihm noch ausführlich begegnen!

Eurer Emanuel Swedenborg et al.

Emanuel Swedenborg (1688–1772) war ein heute noch vor allem wegen Immanuel Kants kritischer Schrift «Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik» von 1766 bekannter Spiritist, Theosoph und Naturwissenschafter. Er behauptete, von Engeln in ein Geisterreich geführt worden zu sein, in dem ihm die Verhältnisse in Himmel und Hölle eröffnet worden seien. In seinem Buch «Himmel und Hölle» gab er einen «Reisebericht» von diesen Erfahrungen. Swedenborg beeinflusste Künstler wie Edvard Munch und Schriftsteller und Philosophen wie die Gebrüder William und Henry James (deren Vater Henry James sr. Swedenborgianer war). Die «Kirche des neuen Jerusalem», die 1788 in London gegründet wurde, beruft sich auf Emanuel Swedenborg, auf seine Bibelinterpretationen und Visionen sowie auf seinen Grundsatz intuitiver Erkenntnis.

Michael Hampe ist Professor für Philosophie an der ETH Zürich; neueste Buchpublikation: «Tunguska oder Das Ende der Natur» (Hanser, 2011).

http://www.nzz.ch/aktuell/feuilleton/ue ... 1.18063056


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